Schillers Theorie der Ästhetik

Schillers Theorie der Ästhetik basiert auf Kants Philosophie. Das Unbehagen, das Schiller an der Ethik des kategorischen Imperativs der Pflicht hatte, nämlich die platonische Trennung der beiden menschlichen Bereiche, der Sinne und des Verstandes beziehungsweise der Vernunft, dieses Unbehagen bildet die Basis seiner ästhetischen Theorie.

Wo ES ist soll ICH werden, sagte ganz im platonisch-kantischen Sinne später Sigmund Freud. Die diagonale Aufwärtsbewegung von den Trieben, den Bedürfnissen zur Rationalität, diese Forderung der Vernunft wollte Schiller nicht mitmachen. Für ihn waren sie eher gleich berechtigt und genau in dieser Gleichheit und Verbindung der beiden menschlichen Sphären sieht Schiller die Forderung  der Vernunft.

Die Sinne sind nicht nur der Stoff ohne den keine Erkenntnis ist, die der Verstand also braucht, um seine weitere Formgebung (neben der Formgebung der Sinne durch Raum und Zeit) diesem Stoff aufzuprägen und durch seine Kategorien erkennen zu können.
Die Sinne werden vielmehr als sinnlicher Trieb empfunden, als ein tiefes Bedürfnis nach neuen Inhalten, die die jeweiligen Bildungen des Begriffs und der Form transzendieren. Sie garantieren dadurch gerade eine gewisse Freiheit (die Schiller selbst nicht zu bemerken scheint) , die das Kantische Reich der Sinne nicht kennt, denn dort herrscht nur die Naturnotwendigkeit.
Man kennt den Entzug aller Sinneswahrnehmungen in den Kellern der Folterer und weiß wie notwendig die Sinnesempfindungen dem Menschen sind – nicht aus Gründen der Biologie. Sie sind uns ein lebhaftes Bedürfnis, das jeder Künstler kennt. Sie sind zuweilen gerade davon besessen, Neues nicht nur zu erfahren, sondern auch zu schaffen. Hierin liegt ein Aspekt der Freiheit, die von andrer Art als die gewöhnliche Freiheit ist.
Der andere (zum sinnlichen antagonistische) Trieb , der konstitutiv für die Ästhethik ist, ist der Formtrieb, der den Inhalten erst die Gestalt gibt. Er macht die Inhalte kommunizierbar und verstehbar. Ja noch mehr, er macht sie erst schön.
Die dialektische Einheit von sinnlichem Trieb und Formtrieb ergibt dann den Spieltrieb, der die Schönheit garantiert und ausmacht. Schiller hat sich aber von dem sokratischen beziehungsweise cartesianischen Ansatz nicht erholt. Das sieht man in unserem Text daran, dass er die Entstehung dieses Spieltriebs nicht glaubt, erkennen zu können. Denn, so sagt er im 15. Brief :
„Dadurch aber, dass wir die Bestandteile anzugeben wissen,
die in ihrer Vereinigung die Schönheit hervorbringen, ist die Genesis derselben auf keine Weise noch erklärt; denn dazu würde erfordert, dass man jene Vereinigung selbst begreift, die uns, wie überhaupt alle Wechselwirkung zwischen dem Endlichen und Unendlichen, unerforschlich bleibt.„
Die Ursache der Unerforschlichkeit, das Unendliche, liegt in der Transzendenz der Ästhetik in Bezug auf die ihr fälschlicherweise unterlegte lineare Subjekt-Objekt-Relation. Bereits Sokrates verfällt dieser Struktur, um die Tugend des Menschen zu erklären. Und ebenso Kant in seinen Kritiken.
Die Kommunikation von Mensch zu Mensch, ihre Interaktion ist bezüglich der instrumentalistischen Subjekt-Objekt-Beziehung in der Tat transzendent. Sie endet nicht wie die Mittel-Zweck-Struktur letztlich in einem Endzweck, der nach Platon die Idee des Guten ist, nach Aristoteles die Glückseligkeit, sie findet im Andern kein Ende, nicht ihr Ziel, sie ist kein Monolog wie die Rhetorik.
Der Andere bleibt ein Geheimnis trotz aller Annäherung und allen Verstehens. Jede Kommunikation, zumindest die wahre, die den Namen verdient ist offen und bleibt es. Ihre Grenze ist in ihr, denn sie ist der jeweils Andere, der ständig überschritten wird, wie man selbst sich hier stets transzendiert. Parmenides hat das noch gesehen, wenn er sein Seyn als dasjeinige bezeichnet, das sein Ende in sich hat. In der Topologie ist eine offene Menge eine solche, die jede mögliche eigene Grenze beinhaltet, sie also überschreitet und damit von keiner begrenzt werden kann. Das Gegenteil, die abgeschlossene
Menge, wird durch ihre Grenze begrenzt. Wie der Monolog, wie das zweckmäßige Handeln und das Zweckmäßige überhaupt. Kommunikation lebt gerade davon, seine eigene scheinbare Grenze zu transzendieren. Kommunikation ist in sich dialektisch und der Grund jeder Dialektik. Nur in Kommunikation bin ich wahrhaft frei. Sonst bin ich in mir gefangen. Jeder Künstler spürt dieses Unbehagen. Deshalb schafft er, um seinem Gefängnis zu entkommen, befreit sich und andere. Er sieht und erlebt dieses Gefängnis von uns allen am intensivsten und sprengt es mit der Kraft seiner Werke.
Kein Werk ohne den Wunsch zu kommunizieren. Kein wahres Werk ohne den Wunsch zu lieben.
Schön allein ist die Kommunikation, die reichhaltige, die entwicklungsfähige, die gelungene. Das fehlt der klassischen Philosophie, sie ist substantiell und solipsistisch. Sie ist unfähig, das Schöne zu erkennen.
Schiller ahnt dies mit seiner Feststellung, die voller Intuition ist, dass hier das Unendliche am Werk ist, nicht das schlechte Unendliche, das zahlenmäßige, das es ohnehin nicht gibt. Viele Märchen kennen und sagen dies. Die Schöne und das Biest. Schneewittchen. Hans im Glück. Der Froschkönig…
Das schöne Ding ist davon abgeleitet. Auf zwei Arten. Zunächst ist es die objektivierte Substanz, der schöne Begriff, das schöne Objekt, das in den gelungen Kommunikationen als ihr Wesen, als ihr Kern, als ihre Ursache gedacht wird. Wohlgemerkt: gedacht und dadurch verkannt wird, verdinglicht wird.
Hört das Kind die Mutter von den schönen Tagen ihrer Kindheit reden, von den Blumen, den Büchern, den Landschaften, die sie selbst in den glücklichen Momenten der Kommunikation sah, erblickt es das Auge, das strahlende, das glänzende der erzählenden Mutter, die immer wieder von solchen Momenten erzählt, so ist es dieser Schein, dieser Glanz, der das Objekt überzieht mit der Magie des Schönen, des schönen Scheins. Doch schön ist nur die Kommunikation, die unendliche Kommunion.
Der Wille, das Schöne zu ergreifen, zu begreifen, verweist es an das Sichtbare, an die Gestalt, die endliche Form. An die Sprache, die Wörter. Schön beschreibt es Canetti in „Die gerettete Zunge“.
Gesprochene Wörter noch mehr als Dinge reflektieren den schönen Schein. Doch sie sind deshalb viel gefährlicher, weil sie das Schöne so knapp nur verfehlen. Die durch sie vermittelte Kommunikation, diese Zwischenzeichen, diese Dritte, die Zeugen, ermöglichen die Magie zu reaktivieren. In ihrer Form spiegelt sich das Erlebnis des Glücks wider oder kann es zumindest in der Erinnerung und in der Literatur, im Märchen, in der Sage, im Mythos. Doch es ist nicht das Schöne. Es ist der schöne Schein in seiner anderen Bedeutung, dem schönen Seyn entgegen. Aus ihm abgeleitet und mehr und mehr
entfernt, entfremdet.
Die zweite Art des schönen Scheins der Gegenstände, Wörter, Musik, des Tanzes zeigt sich in der dem Schönen ähnlichen inneren Struktur, der gelungenen und gleichzeitig transzendeten Kommunikation.
Die einfachste Beziehung, die diese Struktur darstellt auf formale Art ist der goldene Schnitt. Der kleinere Teil (das Kind) verhält sich zum größeren Teil (Mutter) wie der größere Teil zum Ganzen, der offenen Kommunikation. Diese ist stets transzendent und so nicht sichtbar und erkennbar. Doch sie scheint in dem Verhältnis der beiden Teile ohne sich zu zeigen. Parmenides erfährt das schöne Wahre durch eine Göttin und die schönste griechische Philosophie ist die dialogische des Platon. Die Statuen des Pheidias oder des Polykleitos und griechische Tempel (Parthenon-Tempel) verdanken zum Teil ihre Schönheit diesem goldenen Schnitt. Die Schönheit der Gegenstände reflektiert also die Struktur gelungener Kommunikation und macht sie so anschaulich und sogar im Subjekt-Objekt-Verhältnis verstehbar.
Kommunikation ist gerade wegen ihrer unsichtbaren Transzendenz in Gefahr ihre Schönheit zu verlieren. Auch wenn die Formen der Sprache die Kommunikation mit Zwischenzeichen ermöglicht, so frieren diese Mittel sehr oft sie selbst ein. Wörter werden zu Begriffen, zu immer inhaltsleereren und entemotionalisierten Zeichen, die Kommunikation schematisieren. Kommunikation kämpft so immer gegen Sprache an und reformiert sie, verändert sie, verändert ihre starre Grammatik. Neue Inhalte erlösen und bringen neues Leben in die Sprache. Diese Wechselwirkung von sinnlichem Trieb
und Formtrieb garantiert den Schein der Schönheit.